Ich war eines dieser Kinder, denen man die Bücher wegnehmen musste, damit sie mal mit anderen spielten oder endlich schliefen. Seit ich denken kann, habe ich es geliebt zu lesen und vorgelesen zu bekommen. Der absolute Favorit der vierjährigen Pauline war dabei „Der Struwwelpeter“. Nicht nur, dass ich jedes Wort jeder Geschichte aus besagtem Buch auswendig kannte, ich habe mit meinem Papa auch laut und leidenschaftlich gern das Lied von den zehn kleinen Negerlein gesungen. Heute wäre das undenkbar; nicht, dass noch eines der Kinder die Worte „Mohr“ oder „Neger“ nachplappert.
Sobald die Sprache auf die Klassiker der Kinderbücher kommt, ist früher oder später auch die Diskussion um politische Korrektheit in diesen unausweichlich. Sofort schreien die Einen etwas von Diskriminierung und zeitgemäßer Sprache, während die Anderen mit Artikel 5 des Grundgesetzes und der Zensur-Keule drauf schlagen.
Ich bin da eher zwiegespaltener Meinung. Wie Generationen vor mir bin ich mit diesen Büchern in ihrer Originalfassung aufgewachsen und trotzdem bin ich ein politisch sehr korrekter Mensch und setze mich aktiv gegen jegliche Diskriminierung ein. Andererseits bringen veränderte Zeiten veränderte Ansprüche. Integration ist heute wichtiger denn je und wollen wir wirklich, dass die geflüchtete nigerianische Mutter, die sowieso schon ständig rassistische Parolen um die Ohren gehauen bekommt, ihrem Kind vom „Negerkönig“ vorlesen soll?
Wie gesagt, ich bin selbst mit der Negerprinzessin Pippi Langstrumpf und dem Negerbaby Jim Knopf aufgewachsen und dennoch nicht zum Rassisten geworden. Auch „Zeit“-Reporter Ulrich Greiner bezweifelt, dass man Astrid-Lindgren-Leser zu Rassisten erzieht, wenn man ihre Texte nicht von politisch unkorrekten Begriffen befreit. Gerade Astrid Lindgren ist alles andere als eine Rassistin. Ganz im Gegenteil, jeder weiß, dass sie sehr tolerant ist, dass ihre Werke „gekennzeichnet [sind] durch Liebe und Verständnis gegenüber allen Menschen“ und auch ihre Figuren eine weltoffene Einstellung vermitteln, wie auch der Oetinger Verlag in einer Stellungnahme zur Änderung von Kinderbüchern schreibt. Wer die Pippi-Langstrumpf-Geschichten kennt, erinnert sich vielleicht an eine Stelle, an der Pippi davon träumte, Negerprinzessin zu werden. Sie hätte dann einen eigenen Neger, der ihren Körper jeden Morgen mit Schuhcreme putzen würde, damit sie genau so schwarz sei, wie die anderen Negerkinder. Ich kann die entsetzten Gesichter förmlich sehen. Dabei will Pippi doch nur genau so aussehen, wie die anderen Kinder und in ihrem Einfallsreichtum kam ihr eben als Erstes Schuhcreme in den Sinn. Ich glaube nicht, dass sie ein ganzes Volk unterjochen und sie zu Leibeigenen machen wollte. Ich hoffe, das glaubt keiner.
Kinder sollen durch die Geschichten eine meist moralische Lektion lernen und gerade Astrid Lindgren vermittelt diese in ihren Büchern besonders gut; wir haben alle gelernt, dass wir ruhig verrückt und bunt sein können, solange wir nur Spaß daran haben, und, dass wir unseren Kopf nicht in die Suppenschüssel stecken sollen. Dabei hat es keine Rolle gespielt, ob Pippi nun Neger- oder Südseeprinzessin ist. Und ich denke, dass das den Kindern auch heute noch ziemlich egal ist. Die meisten wissen sowieso nicht, wo die Südsee liegt. Oder nehmen wir als Beispiel „Die Geschichte von den schwarzen Buben“ aus dem „Struwwelpeter“. Die pädagogische Botschaft wird den Kindern einwandfrei übermittelt: Lache nicht über Menschen, die anders aussehen. Ob da nun „Mohr“, „Neger“ oder „maximalpigmentierter Junge mit Migrationshintergrund“ steht, ist völlig irrelevant.
Hat diese Änderung also überhaupt einen pädagogischen Zweck? Christine Nöstinger meint, ja. Kinderbücher würden als Erziehungspillen angesehen und hätten deshalb den Vorstellungen der aktuellen Elterngeneration zu entsprechen. Ich denke aber, dieser Änderung haftet eher ein symbolischer Sinn an. Sie fungiert eher, so auch Marie Amrhein, als Pflaster für den verletzten Stolz der Erwachsenen, die versuchen, frühere Fehler, wieder auszubügeln. Das geht sogar so weit, dass in der Gemeinde Botkyrka in Schweden alte Pippi-Langstrumpf-Bücher verbrannt wurden. Kommt schon, ich kann nicht die Einzige sein, die findet, dass die guten Botkyrkaer sich damit nicht wirklich gelungen vom Nationalsozialismus abgrenzen.
Die heutige Elterngeneration selber sei mit den Worten „Neger” und „Mohr” aufgewachsen und viele hätten sie noch immer im Sprachgebrauch, so Amrhein, und jeder, der sie gebraucht, mache sich der Diskriminierung schuldig. Die Kinder der heutigen Zeit kriegen aber von Anfang an beigebracht, dass „Neger“ ein böses Wort ist - nicht zuletzt von den entsetzten Eltern, die beim Vorlesen „Negerbaby“ zu „Baby mit dunkler Haut“ ändern - und gebrauchen es im Alltag gar nicht erst, selbst, wenn sie es kennen.
Wobei, eigentlich ist „Neger” ja gar kein „böses“ Wort. Unsere Eltern sind ja nicht alle Nazis, nur weil sie noch immer „Negerkuss“ sagen. Oder? Eigentlich war „Neger” doch nur eine Bezeichnung für einen Menschen mit dunkler Haut; so wie heute eben Afro-deutsche*r oder dunkelhäutige Person. Das Wort wurde erst „böse“ gemacht, als es für Nazipropaganda gebraucht wurde.
So oder so ist es aber heute schlicht nicht mehr zeitgemäß und entspricht nicht mehr dem heutigen Menschenbild, wie auch der Oetinger Verlag schrieb. Aber wenn das der Hauptgrund für die Änderung ist, dann verlange ich, dass jeder Form von Diskriminierung die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Wort „Weib“ entspricht auch nicht mehr dem heutigen Menschenbild und ist nicht mehr zeitgemäß. Weg damit! Sämtlich Märchen vermitteln, dass frau nur ein Ziel im Leben haben muss, welches auch der einzige Weg zum Glück ist: den Traumprinzen heiraten. Dazu muss frau natürlich nur hübsch aussehen - und das natürlich auch nach einem hundertjährigen Schlaf. Das kann man doch jungen Mädchen nicht beibringen! Ja, überhaupt, ich verlange, dass Barbies vernichtet werden, schließlich vermitteln sie unrealistisch Schönheitsideale und betreiben Bodyshaming vom Feinsten. Was das angeht, schaffen Mütter es schon seit Jahren, ihren Töchtern beizubringen, dass frau keinen Mann braucht, um glücklich zu sein, und dass Oberschenkel nichts abnormal ekeliges sind. Warum kann man es nicht also auch schaffen, Kindern den richtigen Umgang mit den Worten „Neger” und „Mohr” beizubringen? Sicher, Kinder plappern alles sofort nach und stellen Fragen. Aber so sind Kinder nun mal und das weiß jeder. Ich bezweifle, dass jemand den Verfassungsschutz informiert, wenn ein Kind auf der Straße sagt „Guck mal, Mami, ein Neger!“. Das wäre doch der perfekte Zeitpunkt, deinem Kind zu erklären, dass man das heute nicht mehr sagt, oder?
Ist es denn besser, schwierige Themen vollkommen von Kindern fernzuhalten? Das heißt, Themen die wir für schwierig erachten. Soll ich meinem Kind etwa die Augen zu halten, wenn sich eine Frau und ein Mann küssen, weil es noch nicht aufgeklärt ist; und erst recht, wenn sich zwei Menschen gleichen Geschlechts küssen? Soll ich meinem Kind erzählen, der Opa sei nur lange im Urlaub, anstatt ihm zu erklären, dass Menschen sterben? Ich denke, es sollte jedem klar sein, dass wir damit nur eine Generation gutgläubiger, naiver Prinzessinnen heranziehen, die denken, die Welt sei Friede-Freude-Eierkuchen.
Andererseits möchten wir natürlich bei Weitem niemanden diskriminieren. Gerade das Wort „Neger“ kann durchaus missverstanden werden, da es teilweise heute noch in rechter Hetze verwendet wird. Und, wie eingangs bereits erwähnt, wollen wir, dass dunkelhäutige Mütter ihren Kindern vom „Negerkönig“ vorlesen sollen?
Nein, das wollen wir nicht, weil wir Angst haben, die Mutter könnte verletzt sein und Angst haben, ihr Kind würde im Kindergarten diskriminiert werden. Weil weiße, heterosexuelle Cis-Menschen der Mittel- und Oberschicht grundsätzlich denken, sie wüssten, was für Minderheiten am Besten ist und was sie verletzt. Lustig, nicht wahr?
Wie wäre es denn, wenn wir einfach mal die Minderheiten fragen, was sie davon halten, ehe wir darüber urteilen, was sie zu verletzen hat und was nicht?